von Gerald Hüther
erschienen in Neue Zürcher Zeitung, 23.12.2019
Von allen Abenteuern, die das Leben bereithält, ist das Kinderbekommen wohl das kostbarste und überwältigendste. Ein Neugeborenes ist vollkommen abhängig und doch eine eigene Entität. Es zeigt einem die Grenzen seiner selbst auf – und weist doch weit darüber hinaus.
Wer kennt sie nicht, diese besonderen Ereignisse, auf die wir vielleicht schon lange hingearbeitet haben und die uns ganz neue Möglichkeiten eröffnen? Der Schulabschluss kann so etwas sein, auch der Auszug aus dem Elternhaus oder der Beginn einer Partnerschaft, vielleicht auch ein attraktives Stellenangebot oder ein Aufstieg auf der Karriereleiter. An das großartige, uns selbst bestärkende Gefühl, das mit dem Erreichen eines solchen lange ersehnten Zieles verbunden war, können wir uns dann meist auch sehr gut erinnern.
Es gibt aber auch diese ganz besonderen Lebensereignisse, die nicht einfach nur die Verwirklichung dessen sind, was wir erwarten und worauf wir hingearbeitet haben. Sie betreffen zwar auch unser eigenes Leben, reichen aber weit über alle konkreten Ziele hinaus, die wir verfolgen. Solche Sternstunden erleben wir allerdings nur sehr selten. Sie verbinden uns auf eine über unsere eigene Existenz hinausreichende Weise mit dem Fluss des Lebens, in den wir selbst eingebettet sind. Dann spüren wir, dass wir als Teil des Lebens in der Lage sind, nicht nur Leben zu erhalten, sondern selbst neues Leben hervorzubringen. Dieses kaum beschreibbare und wohl auch tiefste Gefühl, das wir als Menschen zu empfinden in der Lage sind, wird immer dann in uns wach, wenn uns bewusst wird, dass wir ein Kind erwarten. Dass wir diejenigen sind, die diesem Kind sein Leben schenken – und damit das Leben selbst in diesem Kind noch einmal neu geboren wird.
Das dominierende Gefühl der Angst
In unserer gegenwärtigen Welt scheint für ein derartig tiefgehendes Gefühl weder Raum noch Zeit vorhanden zu sein. Die meisten Eltern entschließen sich oft erst dann, ein Kind zu bekommen, wenn es in ihre eigene Lebensplanung passt. Zuerst kommt die Karriere, dann das Kind, denken viele. Und wir verfügen ja inzwischen auch über die dafür erforderlichen Hilfsmittel, angefangen bei den entsprechenden Verhütungsmitteln bis zur Pille danach, notfalls lässt sich auch noch eine Abtreibung arrangieren. Nur wenige Frauen werden heute noch schwanger, weil es einfach so «passiert» ist. Die meisten haben eine sehr genaue Vorstellung davon, wann es passieren soll oder «darf». Und falls es dann nicht klappt, sind die Ärzte in den meisten Fällen auch in der Lage, entsprechende Verfahren einzusetzen, um den Kinderwunsch zu erfüllen.
Ein Kind braucht die Zuwendung genauso wie die Luft zum Atmen
Vor wenigen Generationen hatte das, was heute bei uns der häufigste Fall ist, eine «Wunschschwangerschaft», noch Seltenheitswert. Die Freude darüber, «in anderen Umständen zu sein», hielt sich damals meist in Grenzen. Das dominierende Gefühl vor allem der werdenden Mutter war Angst – nicht nur vor möglichen Fehlbildungen, sondern auch vor den Gefahren der Geburt selbst. Hinzu kam noch die Sorge, ob das Geld reicht, um das Kind «durchzubringen». Aber selbst unter diesen schwierigen Bedingungen wird jede schwangere Frau tief in sich auch dieses andere Gefühl gespürt und dieses tiefe Glück darüber empfunden haben, einem Kind das Leben schenken zu können. Es ist klar, dass eine werdende Mutter dieses wunderbare Gefühl umso stärker erleben kann, je weniger es von ihren Ängsten und Sorgen überlagert wird. Und immer häufiger ist es heute auch den werdenden Vätern möglich, dieses menschlichste und tiefreichendste aller Gefühle mit ihr zu teilen. Dann spüren auch sie, dass es nichts Bedeutenderes im Leben gibt, als einem Kind das Leben zu schenken.
Meist ist es noch nicht das positive Ergebnis des Schwangerschaftstests, das dieses Gefühl auslöst, sondern der Augenblick, wenn das ungeborene Kind mit den ersten Bewegungen im Bauch auf sich aufmerksam macht. Dann spürt zuerst die werdende Mutter und, wenn sie seine Hand an die betreffende Stelle führt, auch der werdende Vater, dass ihr Kind ein eigenständiges lebendiges Wesen ist, mit eigenen Regungen. Sie erleben in diesem Augenblick erstmals, dass ihr Kind ein Subjekt ist, zu dem sie liebevoll «Du» sagen können. Je intensiver werdende Eltern diesen Moment der ersten Begegnung mit ihrem Kind erleben können, desto tiefer wird dieses Empfinden dann auch in ihrem Gehirn verankert. Diese tiefe Erfahrung wird ihnen später helfen, ihr Kind immer wieder in seiner Einzigartigkeit zu erkennen und anzunehmen.
Das ist deshalb so wichtig, weil jedes Kind mit dem Grundbedürfnis zur Welt kommt, von seinen Eltern, so wie es ist, als Person, also als Subjekt gesehen und angenommen zu werden. Es braucht diese Zuwendung genauso wie die Luft zum Atmen. Wenn ein Kind spürt, dass es von seinen Eltern als Objekt behandelt wird, geht es ihm nicht gut.
Und wenn es ihm nicht gutgeht, hat es ein Problem und kann deshalb seiner Entdeckerfreude und Gestaltungslust nicht mehr «unbekümmert» nachgehen und die in ihm angelegten Potenziale entfalten.
Wahrgenommen und angenommen
Gerade in unserer heutigen Leistungsgesellschaft kann es sehr leicht geschehen, dass auch Eltern unter Druck geraten und ihre Kinder – aus Sorge um deren Zukunftschancen – zu Objekten ihrer Erwartungen, ihrer eigenen Ziele und Interessen und damit zu Objekten ihrer jeweiligen Erziehungs- und Bildungs- oder sonstigen Fördermaßnahmen machen. Es ist schwer, sich diesem Druck zu entziehen. Helfen kann den Eltern dabei aber die Erinnerung an dieses Gefühl, das damals in ihnen wach wurde, als sich ihr Kind mit seinen ersten eigenen Bewegungen und Regungen im Bauch der werdenden Mutter bemerkbar machte.
Später, nach der Geburt, können die Eltern dann in allen Äußerungen ihres Kindes spüren, wie sehr es sich darum bemüht, von ihnen gesehen, wahrgenommen und angenommen zu werden. Bald gelingt dem Baby sein erstes Lächeln, und die Mutter lächelt zurück. So entsteht der erste Dialog zwischen den beiden. Das Baby merkt, dass ihm seine Mutter antwortet. Und wenn sie lächelt, lächelt es auch. Und je häufiger das Kind nun erlebt, dass es mit einer eigenen Regung in der Lage ist, eine Antwort in seinem Gegenüber auszulösen, desto glücklicher ist es. Es spürt, dass es etwas bewirken kann, dass es gesehen und ihm geantwortet wird. Genau dieses Gefühl ist der Treibstoff, mit dem sich jedes Kind als begeisterter Entdecker auf den Weg macht. Aber dieses wunderbare Gefühl verschwindet sofort und verwandelt sich in Verunsicherung oder gar Angst, sobald ein Kind erleben muss, dass es nicht mehr in dieser Weise gesehen wird, dass es mit seinen Bedürfnissen alleingelassen oder gar wie ein Objekt behandelt wird.
Die Zeit der Schwangerschaft ist deshalb so kostbar, weil sich den werdenden Eltern in dieser Phase das Geheimnis des Lebens offenbart. Sie erleben ihr Kind als ein eigenständiges lebendiges Wesen, das sich, wie alle Lebewesen aus sich selbst heraus, also selbstorganisiert entwickelt.
Das Geheimnis des Lebens
Alles geschieht von ganz allein, sie können und brauchen nichts weiter zu tun, als dafür zu sorgen, dass es ihrem ungeborenen Kind möglichst gutgeht und dass es im Bauch der Mutter alles bekommt, was es braucht. Und auch das funktioniert normalerweise ganz von allein. Dafür sorgen der Körper und der Stoffwechsel der Schwangeren ebenfalls aus sich selbst heraus, selbstorganisiert.
An den Grenzen der Gestaltungsfähigkeit
In einer Zeit, in der wir Menschen so ziemlich alles, was uns wichtig erscheint und was wir zum Leben brauchen, nach unseren Vorstellungen herstellen und gestalten können, ist das für manche Eltern eine tiefgreifende und bisweilen auch nicht ganz leicht zu akzeptierende Erkenntnis. Sie widerspricht ja nicht nur ihren Alltagserfahrungen. Sie stellt oft sogar ihr eigenes Selbstverständnis infrage. Fast alles konnten sie bisher so machen, wie sie es für richtig hielten und wie es ihren Vorstellungen und Absichten entsprach. Und nun geschieht etwas, das sie als werdende Eltern weder gestalten noch steuern können und wovon sie zudem auch noch wissen, dass es ihr gesamtes weiteres Leben verändern wird. Sie haben ihrem Kind das Leben geschenkt und werden dafür nun selbst mit einer neuen Erfahrung beschenkt: dass nicht alles «machbar» ist, dass sie ihr Kind nur dankbar erwarten und liebevoll annehmen können, um es auf seinem Weg ins Leben, so gut sie es vermögen, zu begleiten.
Je besser es den werdenden Eltern gelingt, sich für diese Erfahrung zu öffnen, sie zuzulassen und bewusst anzunehmen, desto leichter fällt es ihnen, ihrem Kind auch weiterhin in dieser Weise zu begegnen. Allzu groß ist heutzutage die Versuchung, aus diesem kleinen Mädchen oder diesem kleinen Jungen etwas ganz Besonderes machen zu wollen. Wenn es Eltern nicht gelingt, sich dagegen zu wehren, geraten sie allzu leicht in Gefahr, ihr Kind zur Verfolgung ihrer eigenen Absichten und Ziele zu benutzen, es zum Objekt ihrer jeweiligen Erziehungs- und Fördermaßnahmen zu machen.
Kinder sind keine Objekte
All das erlebt ihr Kind später noch zur Genüge, wenn es in Erziehungs- und Bildungseinrichtungen unterrichtet, bewertet, mit guten Zensuren belohnt oder mit schlechten bestraft wird. Wehren kann es sich dagegen nur, indem es sich anpasst und diese Rolle so gut wie möglich übernimmt. Dazu muss es aber genau das unterdrücken, was alle kleinen Entdecker und Gestalter als größten Schatz mit auf die Welt bringen: die intrinsische, aus ihnen selbst herauskommende Lust am eigenen Entdecken und ihre angeborene Freude am gemeinsamen Gestalten. Wie gut, wenn ein Kind dann wenigstens zu Hause bei seinen Eltern erlebt, dass es so sein darf und so angenommen wird, wie es ist. Dass es von ihnen ermutigt und inspiriert wird, sich selbst und seine Möglichkeiten zu entdecken, seine Talente und Begabungen zu entfalten.
Es stimmt, dass unsere gegenwärtige Welt wie ein Kartenhaus zusammenfiele, wenn es nicht mehr genügend Kinder gäbe, die unsere Errungenschaften später als Erwachsene zu bewahren und zu stabilisieren bereit und befähigt sind. Diese Erkenntnis beginnt sich jetzt angesichts der sinkenden Geburtenraten in vielen Ländern der westlichen Welt auszubreiten und es werden alle möglichen Programme entwickelt und Maßnahmen auf den Weg gebracht, um die Geburtenzahlen in diesen Ländern wieder anzuheben und die heranwachsenden Kinder in den Erziehungs- und Bildungseinrichtungen so gut wie möglich für all das zu qualifizieren was von ihnen später im Beruf erwartet wird. Aber Kinder kommen nicht auf die Welt, weil sie gebraucht werden. Und sie eignen sich ihr Wissen und ihr Können auch nicht deshalb an, um später die jeweiligen Rollen möglichst gut auszufüllen, die wir für sie vorgesehen haben, für die sie gebraucht werden. Kinder sind keine Objekte.
Wenn eine Schwangere, vielleicht sogar zusammen mit ihrem Partner, sagt: «Wir erwarten ein Kind», so bringt sie damit genau dieses Gefühl zum Ausdruck. In ihrem tiefsten Inneren wissen sie, dass ihr Kind weder von ihnen «gemacht» noch nach ihren Vorstellungen geformt werden, dass es sich nur selbst entwickeln und entfalten kann. Als werdende Eltern können sie sich nur darum bemühen, es so zu begleiten, dass es ihm an nichts mangelt was es für diesen Selbstentfaltungsprozess braucht. Am leichtesten wird ihnen das gelingen, wenn sie es als Geschenk erleben und ihm sein Leben zum Geschenk machen.
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Gerald Hüther ist Professor für Neurobiologe an der Universität Göttingen und Vorstand der Akademie für Potenzialentfaltung. Er befasst sich im Rahmen verschiedener Initiativen und Projekte mit neurobiologischer Präventionsforschung.
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